Woran Le Pen und der Rassemblement National scheiterten

Nach der Frankreich-Wahl

„Ça serait incroyable!“ – unglaublich wäre das, antwortete mir ein befreundeter Journalist, nachdem ich ihm am frühen Sonntagabend erste Schätzungen aus Paris zu den anstehenden Ergebnissen der Parlamentsstichwahl schickte. Und in der Tat stellten die schließlich um 20 Uhr präsentierten Zahlen alles auf den Kopf, was in den Tagen und Wochen zuvor vorhergesagt wurde: Das heterogene, linke Bündnis „Nouveau Front Populaire“ errang 178 der 577 Sitze, die von Kommentatoren und Experten abgeschriebene Allianz der Unterstützer Emmanuel Macrons, „Ensemble!“, belegte den zweiten Platz mit 156 Mandaten.

Besonders überraschte jedoch das schwache Abschneiden des rechtsextremen „Rassemblement National“ (RN), der zuvor als unangefochtener Wahlsieger festzustehen schien. Statt der angestrebten absoluten Mehrheit entsenden er und seine Verbündeten künftig nur 142 Abgeordnete in die Assemblée Nationale. Woher kam dieser Absturz?

Wie sicher sich Marine Le Pen ihres Wahlsiegs gewesen sein muss, offenbarte sie bereits kurz nach Bekanntgabe der ersten Zahlen. Das Ergebnis stelle eine „victoire différée“ für ihre Partei dar, einen verzögerten Sieg. Das klang geradezu trumpesk und sollte wohl in etwa heißen: Diese Wahl ist unerheblich, die nächste Wahl zählt.

Die Ergebnisse der Wahl sprechen eine andere Sprache. Der Rassemblement National um seinen designierten Premierminister Jordan Bardella hat die Wahl verloren. RN-Generaldirektor Gilles Pennelle, der Kandidatenkür und Wahlkampf im Rahmen eines „Plan Matignon“ (dort residiert der Ministerpräsident) verantwortete, trat zurück.

Besonders bitter für den RN ist es, wenn man das Endergebnis mit dem Erfolg im ersten Wahlgang am 30. Juni vergleicht. Nichts schien den RN aufzuhalten. In mehr als der Hälfte aller Wahlkreise lagen seine Kandidaten auf dem ersten Platz. An allen Tagen zwischen den Wahlgängen gockelte Jordan Bardella kraftstrotzend über die Plateaus der Fernseh- und Radiosender, kokettierte mit seiner im Geiste bereits zusammengestellten zukünftigen Regierungsmannschaft und formulierte kantige Bedingungen, um das Amt des Premierministers zu übernehmen: Eine absolute Mehrheit wäre ideal, mindestens aber die überdeutlich stärkste Fraktion müsse seine Partei stellen.

Zeitgleich wurden in Frankreich und der ganzen Welt Szenarien diskutiert, zumeist mit demselben Ausgangspunkt: Der RN würde diese Wahl gewinnen. Der deutsche Bundeskanzler zeigte sich besorgt. Die deutsch-französische Freundschaft schien unabwendbar vor der größten Belastungsprobe ihrer Geschichte zu stehen, wenn nicht gar vor ihrem vorübergehenden Aus.

Was ist also passiert in diesen wenigen Tagen zwischen dem ersten und dem zweiten Wahlgang? Was führte dazu, dass der Rassemblement National den so sicher geglaubten Sieg nicht einfuhr? Zwei Gründe scheinen ausschlaggebend.

Das Bollwerk hat funktioniert

Der „front républicain“, im übertragenen Sinne: das demokratische Bollwerk gegen den Rechtsextremismus, war seit den 70er Jahren ein verlässliches Kennzeichen französischer Wahlen. Durch Wahlabsprachen und dem – manchmal zähneknirschenden – Abzug eigener Kandidaten unterstützen sich die demokratischen Parteien untereinander, um in einer Stichwahl rechtsextremistische Kandidaten zu schlagen. So zogen Konservative und Sozialisten ihre Bewerber dort zurück, wo der jeweils andere stärker abschnitt. Kam es zu einer Stichwahl zwischen einem gut positionierten Kandidaten des alten Front National und einem bürgerlich-konservativen Bewerber, konnte letzterer vom Rückzug des weniger gut positionierten linken Kandidaten zu seinen Gunsten profitieren und sich der Unterstützung der linken Wählerschaft versichert sein.

Dieses Bollwerk, so mutmaßten viele Beobachter, sei Geschichte: zu hart die Bandagen in der politischen Arena, zu heftig die politische Auseinandersetzung, zu groß die gegenseitige Verachtung zwischen den vielen politischen Akteuren. Doch siehe da: Das Bollwerk hat (nochmal) funktioniert. Binnen 48 Stunden nach dem ersten Wahlgang ist es in diesem knappen aber entscheidenden Zeitraum den Gegnern der Rechtsextremen gelungen, ihre Rivalitäten hinter sich zu lassen. Mehr als 200 Kandidaten, die für die Stichwahl qualifiziert waren, zogen sich zwischen den Wahlgängen auf Anordnung ihrer jeweiligen Parteiführung zurück. Etwa zwei Drittel der Stichwahlen mit einem Kandidaten des RN und zwei weiteren Bewerbern, wurden so zu Duellen zwischen dem RN-Bewerber und nur einem weiteren Bewerber.

Die hohe Anzahl dieser Rückzüge verblüffte. Hauptsächlich wurden sie zwischen der Nouveau Front Populaire (Linke und Linksextreme) und Ensemble! (Präsidentenmehrheit) verhandelt. Ernsthafte Zweifel bestanden daran, ob die Wähler den Wahlempfehlungen der Parteiapparate folgen würden. Entsprechend größer war die Überraschung am Abend des zweiten Wahlgangs: Wo RN-Kandidaten in der Stichwahl standen, stimmten viele Wähler – oftmals entgegen ihrer eigenen politischen Präferenzen – für deren Mitbewerber. Sehr oft hatte der RN das Nachsehen.

Damit lautet eine zentrale Botschaft dieser Wahlen: Der Rassemblement National hat immer noch deutlich mehr Gegner als Anhänger. Marine Le Pen hat den Fortschritt ihrer Strategie zur „Entdiabolisierung“ der einst von ihrem Vater Jean-Marie gegründeten Partei unterschätzt. Das Stigma der Unwählbarkeit dieser Bewegung, deren Gründer die Gaskammern der Nazis dereinst als „Detail der Geschichte“ bezeichnete, haftet ihr bis heute stärker an, als seine Tochter es wohl wahrhaben wollte.

„Mein Augenarzt ist Jude.“

Der zweite Grund für das letztlich schwache Abschneiden des Rassemblement National liegt in ihm selbst. Insbesondere nach dem starken Abschneiden im ersten Wahlgang zeigten sich verstörende Risse in dessen Fassade.

Jenseits des eloquent wirkenden Bardellas, einiger gut gemachter TikTok-Videos und griffiger Wahlslogans offenbarte sich bei näherem Hinsehen die programmatische und personelle Trivialität und Leere der Bewegung. Bis zum ersten Wahlgang hatte der RN vor allem auf die Unpopularität Emmanuel Macrons gesetzt und Ängste rund um die Themen sinkende Kaufkraft, unregulierte Einwanderung und allgemeine Unsicherheit geschürt. Zwischen den beiden Wahlgängen und angesichts der realistisch erscheinenden Möglichkeit einer Regierungsübernahme geriet der RN in Erklärungsnöte. Den Fragen zu konkreten Zielen und Plänen in anderen wichtigen Bereichen wie der Industrie-, Energie- und Außenpolitik konnte der RN nur ein schwammiges und grobschlächtiges politisches Programm entgegensetzen, dessen wenige konkrete Punkte notgedrungen täglich neu kalibriert werden mussten.

Doch nicht nur die Inhalte entpuppten sich als Problem. Auch die Kandidatenkür war nicht besonders sorgfältig vorbereitet. Erstaunt lernten die Franzosen eine ganze Reihe fragwürdiger Kandidaten kennen, die wahlweise rassistische, antisemitische oder frauenfeindliche Äußerungen von sich gaben. Das Foto einer Kandidatin mit einer Wehrmachtsmütze wurde in Umlauf gebracht. Eine andere versicherte, sie sei keine Rassistin, weil sie einen jüdischen Augenarzt habe. Mehrere Bewerber hatten ein langes Vorstrafenregister. Ein anderer stand unter gesetzlicher Betreuung und war somit von der Wahl eigentlich ausgeschlossen.

Die beliebten Kandidaten-Debatten erlebten die eine oder andere Posse. In vielen Wahlkreisen sagten die RN-Bewerber schlicht ab. In anderen gingen die RN-Kandidaten völlig unter und waren unfähig, auch nur banalste Fragen zu beantworten. Der Wählerschaft blieben diese Episoden nicht verborgen.

Also alles in Butter?

So enttäuschend der Wahlausgang für den Rassemblement National diesmal auch gewesen sein mag, so wenig sollte man die Ergebnisse auf die leichte Schulter nehmen. Man vergleiche nur das aktuelle Ergebnis mit jenem der Wahlen vor zwei Jahren: War der RN nach der Parlamentswahl 2022 mit 89 Abgeordneten in der Nationalversammlung vertreten, werden es künftig 143 sein, rechnet man die Verbündeten hinzu.

Beeindruckend zeigt sich auch, wie lokal verwurzelt der RN bereits ist. Von den Abgeordneten, die 2022 einen Wahlkreis gewinnen konnten, verloren nur acht ihr Mandat – alle anderen Wahlkreise konnten gehalten werden.

Der RN gewinnt an Stimmen hinzu. Gemessen an den abgegebenen Stimmen liegt der RN vor den anderen politischen Lagern. Mehr als zehn Millionen Franzosen stimmten für ihn beziehungsweise seine Bewerber.

Auch wenn es nicht jedem gefällt: Die Partei verfügt über eine ungemeine Kraft, auch wenn diese bei den jüngsten Wahlen nicht zum Tragen kam. Der RN wird versuchen, seinen bisher erfolgreichen Weg weitergehen: den Blick auf die nächsten Wahlen richten, versuchen, seine Verankerung in den gewonnenen Wahlkreisen zu festigen und die Menschen auf Wochenmärkten und in Fernsehdebatten weiter für sich zu gewinnen. Wird der RN mit diesem Kalkül dauerhaft erfolgreich sein? War der letzte Wahlsonntag ein weiterer Schritt auf dem Weg zum Erfolg bei der nächsten Präsidentschaftswahl oder erleben wir das Ende seines Aufstiegs und die Grenzen seiner Strategie?

Die Wahlniederlage vom 7. Juli versuchen Le Pen und Bardella nach Kräften zu ihrem Vorteil auszuschlachten. Seit Bekanntgabe der Ergebnisse wenden sie sich an ihre enttäuschte Wählerschaft mit der eindringlichen Botschaft, ihnen sei die Wahl gestohlen worden, die Blockparteien würden sich dem Votum des Volkes durch Manipulationen widersetzen. Diese Dialektik ist nicht genuin französisch. Sie begegnet uns auch in Deutschland und anderen Ländern in vielfältigen Schattierungen.

Auch die komplexen Mehrheitsverhältnisse im Parlament wird der RN zu nutzen wissen: Die Wahlsiegerin, die Neue Volksfront, wird ob ihrer Heterogenität Schwierigkeiten haben, ihre Einheit dauerhaft zu bewahren. Zudem verfügt sie über keine Regierungsmehrheit, sieht sich gleichwohl als die einzige führende Partei – und verhält sich auch so. Der Konflikt mit dem Präsidentenlager und den Konservativen ist vorprogrammiert. Der RN wird ihn kaum schlichten, wohl aber zur eigenen Imagepflege nutzen.