Von der Leyens Euro(pa)visionen

Kolumne

Wer an die vergangene EU-Legislaturperiode von Ursula von der Leyen denkt, der kommt schnell auf Corona oder den Krieg in der Ukraine. Für Wirtschaftsvertreter ploppen Schlagworte wie CSDDD (Lieferkettenrichtlinie) oder CSRD (Nachhaltigkeitsberichterstattung) auf. Und beim ins Gesicht schnippenden Wassertropfen erinnern wir uns an diese neuen Plastikdeckel. Geplantes und Ungeplantes – in der letzten Legislaturperiode war viel los in Brüssel und Straßburg. Doch woran können wir eigentlich ablesen, was sich die frisch wiedergewählte Kommissionspräsidentin für diese Legislatur vornimmt?   

Das ist nicht so einfach. Während die politische Kultur in Deutschland von Wahlprogrammen und Koalitionsverträgen lebt, entwickelt die EU ihre Agenda durch zahlreiche Dokumente, Reden und Konsultationen. Zum Glück gibt es das jährliche Arbeitsprogramm der Kommission. Es bietet eine erste Übersicht über Prioritäten und geplante Initiativen. Das diesjährige Hausaufgabenheft verspricht mit 26 Reformvorschlägen einen Fokus auf Bürokratieabbau für Bürger und Unternehmen sowie auf Wettbewerbsfähigkeit und wirtschaftliche Sicherheit.   

Wer lieber hört, anstatt zu lesen, dem sei der Livestream des Europäischen Parlaments ans Herz gelegt. Einmal im Jahr steigt in Straßburg die „Rede zur Lage der Union“, ganz nach dem US-amerikanischen Vorbild der State of the Union Address. Dabei blickt die Kommissionspräsidentin nicht nur zurück, sondern gibt vor allem einen Fingerzeig auf das, was kommen soll. So kündigte Ursula von der Leyen 2022 mehr Klimaschutz durch den European Green Deal an. Außerdem bekundete sie 2019 den Willen, eine EU-weite Regulierung von künstlicher Intelligenz vorzulegen, der Vorbote des kürzlich beschlossenen AI Acts.  

Obwohl das Europäische Parlament keine eigenen Gesetze vorschlagen kann, trägt die Kommissionspräsidentin solche richtungsweisenden Ankündigungen häufig den Abgeordneten vor. Das unterstreicht ihre Rechenschaftspflicht gegenüber dem Parlament. Zudem stellt es einen nützlichen ersten Gradmesser dar, wie der politische Kurs ankommt. Auch ohne Initiativrecht weiß das Europäische Parlament seinen Einfluss effektiv zu nutzen. Beachtenswert ist der Vorstoß zur Unternehmenssteuerpolitik. Das Parlament veranlasste die Kommission zu einem aktiveren und ehrgeizigeren Ansatz bei der Reform der Unternehmenssteueragenda, obwohl es in Steuerfragen kein offizielles Mitspracherecht hat.   

Darüber hinaus sorgte ein Bericht im Auftrag des Europäischen Rates kürzlich für Aufsehen. Der Letta Report, verfasst von dem ehemaligen italienischen Premierminister Enrico Letta, lieferte viele Denkanstöße zur Wettbewerbsfähigkeit der EU und zur Zukunft des Binnenmarktes. Ein weiterer Italiener wird es ihm bald gleichtun: Nach der Sommerpause wartet Brüssel gespannt auf die von der Kommission beauftragte Analyse von Italiens Ex-Premier Mario Dragi. Beide Berichte fließen in die politischen Überlegungen und die Ausrichtung der neuen Kommission ein.   

Die letzten 40 Seiten unserer Leseliste stammen aus dem Kommissionsgebäude. Ursula von der Leyen stellte bei ihrer Wiederwahl Mitte Juni die Schwerpunkte ihrer zweiten Amtszeit vor. Große Linien sollen Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit sein, insoweit gibt es Überschneidungen mit dem Bericht Lettas. Aber auch Verteidigung, Sicherheit und Naturschutz gehören zu den Prioritäten. Typisch ist auch die 100-Tage-Marke: In dieser Zeit zu Beginn ihrer zweiten Amtszeit möchte die EU-Kommission konkret vorschlagen, wie sich saubere Industrie und Wettbewerbsfähigkeit verbinden lassen. Das ist ein hehres Ziel, bei dem vor allem konservative Kreise mit ihrer Kritik zum Verbrennerverbot bereits die Motoren aufheulen lassen. 

Insgesamt zeichnet sich für die nächsten Jahre jedoch ein Muster ab: Die deutsche Kommissionspräsidentin wird sich auf die Durchsetzung der großen Vorhaben ihrer vorherigen Amtszeit konzentrieren. Neben der Umsetzung des Green Deal und des NextGenerationEU-Programms ist auch in der Digitalpolitik mit viel Sekundärrecht, also detaillierten Durchführungsgesetzen, zu rechnen.   

Der Blick in die EU-blaue Kristallkugel verrät zwar noch nicht die Namen jedes neuen EU-Buchstabensalats, einige Stationen für die Reise von 2024 bis 2029 sind aber bereits auszumachen. Die Politik aus Brüssel und Straßburg bleibt ein Metier für Leseratten. Wer sich umfassend über die zukünftigen Schritte informieren möchte, tut gut daran, regelmäßig die strategischen Dokumente der Kommission, die Entschließungen des Parlaments und die Schlussfolgerungen des Rates im Auge zu behalten. In diesem Sinne: Happy Reading! – und: Vive l’Europe!