Randerscheinungen

Parteiensystem im Wandel

Die Parteiengefüge im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik ähnelten einander sehr, trotz grundlegender Unterschiede. Darin fanden eine sozialdemokratische und eine katholische Partei sowie liberale und konservative politische Kräfte Platz. Das buntscheckige Spektrum erweiterte sich in der Weimarer Republik durch die extremen Formationen der NSDAP und der KPD. Gleichzeitig verkleinerte es sich, weil ethnische und regionale Gruppierungen verschwanden. Die festgefügten Milieus und Lager blieben über den Systemwechsel 1918/19 hinaus weitgehend erhalten.

Im Gegensatz zum Kaiserreich waren die Parteien für die Regierungsbildung notwendig. Die erste „Weimarer Koalition“ aus SPD, Zentrum und DDP konnte die Mehrheit nie wiedererlangen, die sie schon bei der ersten Reichstagswahl 1920 verloren hatte. Während diese Parteien 1918/19 eine tragende und höchst konstruktive Rolle spielten, galt das nicht für die Endphase der Weimarer Republik. Hier entzogen sie sich ihrer Verantwortung. Dem vom Volk gewählten Reichspräsidenten Paul von Hindenburg, der 1925 mit den Stimmen der Rechtskräfte und 1932 mit den Stimmen der Linkskräfte siegte, kam als Kriseninstanz eine entscheidende Rolle zu – mit fatalen Konsequenzen: der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler.

Vorsichtige Lizenzierungspraxis der Alliierten

Die Nationalsozialisten errichteten rasch einen Einparteienstaat, indem sie die politische Konkurrenz mit Parteiverboten beseitigten. Im November 1933 traten zur Reichstagswahl ausschließlich Vertreter der NSDAP an. Nach 1945 verschwand diese Partei fast vollständig, während die radikale Ausschaltung der anderen Parteien im Jahr 1933 diese in den folgenden Jahren entlastete, verglichen mit anderen Organisationen. Somit mussten die Parteien nicht die Verantwortung für das Geschehene übernehmen. Insofern unterschied sich die Ausgangslage völlig von der nach dem Ersten Weltkrieg. Im Gegensatz zu damals verstanden sich die westlichen Besatzungsmächte angesichts des Ost-West-Konflikts bald nicht mehr als Gegner der Deutschen.

Die vorsichtige Lizenzierungs­praxis der Alliierten etablierte ein Gefüge aus vier Parteien. Sie knüpfte teils an frühere Traditionen an (SPD, KPD), teils stellte sie einen Neuanfang dar (Union, FDP). Die alte Fehde zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten flammte schnell wieder auf, und bald herrschte offene Feindschaft zwischen ihnen. Die Liberalen vereinigten sich – im Gegensatz zur Vergangenheit – in einer Partei, zunächst unter verschiedenen Namen. Erst im Dezember 1948 schlossen sich die liberalen Landesverbände in Heppenheim zur FDP zusammen, was die traditionellen Konflikte zwischen „national-liberalen“ und „links-liberalen“ Strömungen jedoch nicht beendete. CDU und CSU führten einerseits ältere Traditionen fort, andererseits ging es ihren Gründern vor allem um die Schaffung einer christlich-überkonfessionellen Partei. Sie wollten das Manko des ausschließlich auf den katholischen Bevölkerungsteil ausgerichteten Zentrums überwinden.

Parteienkonzentration

Die erste Bundestagswahl war stark von Weimarer Einflüssen geprägt. Danach setzte zügig eine Parteienkonzentration ein. Als die Union 1953 bei der Bundestagswahl 45,2 Prozent der Stimmen und sogar eine hauchdünne absolute Mehrheit bei den Mandaten erhielt, sprach ein Mitbegründer der deutschen Politikwissenschaft, Dolf Sternberger, von einem „deutschen Wahlwunder“. Er hatte das zuvor fragmentierte Parteiensystem im Blick.

Bei dieser Wahl zog die Flüchtlingspartei Gesamtdeutscher Block/Block der Heimatvertriebenen erst- und letztmals in das Parlament ein, ebenso wie die Deutsche Partei, die das schon 1949 und dank CDU-Hilfe auch 1957 geschafft hatte. Von 1961 bis 1980 gelang das nur noch den drei „Deutschland“-Parteien: der Union, der SPD und der FDP. Die KPD, die 1953 klar an der Fünfprozentklausel gescheitert war, und rechtsextremistische Parteien blieben ohne Chance auf einen Parlamentseinzug.

Die Union warf ideologischen Ballast ab, die Sozialdemokraten taten es ihr 1959 mit ihrem Godesberger Programm gleich. Beide Parteien entwickelten eine hohe Integrationskraft unter den Wählern.

Der gravierende Vorteil des damaligen Parteiensystems bestand darin, dass die Bürger mehr oder weniger sicher wussten, wer mit wem koalieren würde: die FDP entweder mit der Union oder mit der SPD. Der Einzug der Grünen ins Bundesparlament 1983 und 1987 änderte an diesem Befund nichts Grundsätzliches. Die neue Kraft stand allenfalls für eine Kooperation mit der SPD zur Verfügung. Allmählich bildete sich ein System aus zwei Blöcken heraus. Der Wähler votierte nicht nur für eine Partei, sondern im Kern auch für eine Regierung.

Dekonzentration

„Kleine Parteien im Aufwind“ – so lautete bereits 2006 ein Buchtitel. Die deutsche Einheit 1990, die von den Parteien nach der friedlichen Revolution zügig vorangetrieben wurde, führte zu einem Fünfparteiensystem. Die aus der SED hervorgegangene „Partei des Demokratischen Sozialismus“ (PDS) stieß hinzu. Nach dem Zusammenschluss mit der WASG 2007 wurde sie in „Die Linke“ umbenannt. Anders als die „Piratenpartei“, die 2011/12 nur vorübergehend in vier Landtagen vertreten war, entwickelte sich die 2013 gegründete und seit 2017 im Bundestag vertretene „Alternative für Deutschland“ (AfD) zu einer erfolgreichen Partei am rechten Rand. „Die Linke“ und die AfD erschweren es, dass im Bundestag neue Regierungen zustandekommen.

Das nach der Bundestagswahl 2021 gebildete Ampelbündnis haben die Auguren nicht erwartet. Die SPD, die zwar keine Koalition mit der Partei „Die Linke“ anstrebte, dieses aber nicht explizit ausschloss, konnte nach der Wahl ein solches Szenario wegen einer knapp verfehlten arithmetischen Mehrheit nicht als Drohkulisse nutzen.

Eine rot-grün-gelbe Koalition bot sich an, da die SPD einen Vorsprung gegenüber der Union hatte und die Grünen klar vor den Liberalen lagen. Wie sich bald herausstellte, funktionierte ein solch lagerübergreifendes Bündnis nur mehr schlecht als recht, da Dreier-Koalitionen grundsätzlich mehr Streitpotenzial bergen.

Es ist zu einfach, auf Kommunikationsfehler abzustellen und die Schuld beim zurückhaltenden, auf Ausgleich bedachten Kanzler Scholz zu suchen. Diese Sicht vernachlässigt die massiven Unterschiede zwischen den Partnern, zumal zwischen den Grünen und den Liberalen. Die Koalition wird wohl dennoch halten. Eine Alternative fehlt und die drei Partner befürchten, der Wähler könne sie bestrafen, sollte die Koalition scheitern. Bereits jetzt ist klar: SPD und Grüne schließen ein Bündnis mit der AfD aus, Union und FDP wollen dazu noch mit der Partei „Die Linke“ nicht koalieren.

Zur Unübersichtlichkeit trägt weiter bei, dass sich die Union uneins über die Grünen als Koalitionspartner ist: Die CDU neigt zu einem Ja, die CSU zu einem Nein.

Großorganisationen wie Kirchen und Gewerkschaften verlieren im Zuge der Individualisierung massiv an Mitgliedern. Auch die Mitgliederzahl der beiden großen Parteien (Union und SPD), die bei der Bundestagswahl 2021 zum ersten Mal nicht die absolute Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen konnten, ist seit der Wiedervereinigung stark zurückgegangen.

Die Konkurrenz aber wächst. So streben die „Freien Wähler“, die in Bayern besonders stark sind und dort der Regierung angehören, ebenso in den Bundestag.

Gegenwärtig schießen Parteien wie Pilze aus dem Boden. Im November 2022 entstand das „Bündnis Deutschland“, politisch angesiedelt zwischen Union und AfD, im Januar 2024 das „Bündnis Sahra Wagenknecht“ (BSW) als Abspaltung von der Partei „Die Linke“. Seit Februar wendet sich die „Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch“ (DAVA) vor allem an Bürger mit türkischen Wurzeln, während die „WerteUnion“ von Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen aus dem rechten Flügel der Union hervorgegangen ist.

Ganz unabhängig vom Erfolg dieser oder jener neuen Partei: Entscheidend ist nicht die Fragmentierung durch die Anzahl der Parteien, sondern die Polarisierung und die Zuspitzung der Gegensätze. Das ist ein Indiz für gesellschaftliche Spaltungstendenzen. Ein weiterer gravierender Strukturdefekt: Die Wählerschaft weiß angesichts der Vielzahl der Parteien nicht mehr vor der Wahl, wer mit wem ein Bündnis einzugehen gedenkt.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 147 – Thema: 25 Jahre Hauptstadtjournalismus. Das Heft können Sie hier bestellen.