Fünf Dinge, die Progressive von der Harris-Kampagne lernen sollten

US-Wahlen

1. Den Mut haben, gewinnen zu wollen

Die Zeiten sind unsicher, weltweit erstarken rechte und rechtsextreme Parteien – nicht nur in den USA, sondern auch in Deutschland. Dass diese Entwicklungen Progressiven Angst machen, ist verständlich. Doch ob es sich um Trump oder Höcke handelt: Den Gegner größer zu machen, als er ist, schadet mehr, als es nützt. Die ständige Skandalisierung nutzt sich schnell ab und wirkt auf die Basis auf Dauer eher lähmend. Wenn Progressive ständig davor warnen, dass sie verlieren könnten, entmutigt das ihre Anhänger. Stattdessen sollten sie selbstbewusst zeigen, wofür sie stehen, und die Entschlossenheit verkörpern, zu gewinnen. Genau das tun Harris und Walz.

Die Euphorie kann man dann in politisches Kapital verwandeln. Harris’ Team meisterte das mit Bravour: Hunderttausende meldeten sich für Fundraising-Calls via Zoom an und sammelten allein in den ersten 24 Stunden rekordverdächtige 81 Millionen US-Dollar aus Kleinspenden. Auf Twitter, Tiktok und Instagram feierten Nutzer Harris in kurzen Videos als „brat“ – ein Jugendwort, das weibliches Empowerment beschreibt. Die Harris-Kampagne verstärkte den User-generierten Content. Das ist Rapid-Response Campaigning at its best.

Dieser „Vibe“ sollte auch progressiven Parteien in Deutschland als Vorbild dienen. Denn: „Let us always remember: When we fight, we win!“

2. Sich vom Hype-Train nicht überrollen lassen

Dass Kamala Harris erst kurz vor der Wahl zur Kandidatin der US-Demokraten wurde, war alles andere als ein genialer Kampagnenplan. Im Gegenteil: Der späte Start war eine Notlösung, nachdem sich Joe Biden nach einem desaströsen TV-Duell und einer schmerzhaften Rücktrittsdebatte nicht mehr halten konnte. Dennoch zeigt die Dynamik dieser späten Entscheidung: Ein später Start hat Vorteile.

Harris beherrscht jetzt das Zentrum der Berichterstattung über die Präsidentschaftswahl: Seit Biden seine Empfehlung für Harris ausgesprochen hat, hört das Rauschen im Blätterwald nicht auf. Es wurde spekuliert: Wen wird sie als Vizepräsidenten nominieren? Wer ist Tim Walz? Werden Beyoncé oder gar Taylor Swift auf dem Parteitag der Demokraten auftreten? Wird Donald Trump sich einer TV-Debatte mit Harris stellen? Trump ist medial kaum noch präsent – es scheint fast, als sei er auserzählt.

Dass Trump vor wenigen Wochen nach einem missglückten Attentat mit blutendem Ohr für ein ikonisches Kampagnenbild sorgte, ist fast schon in Vergessenheit geraten. Manchmal kommt es anders, als man denkt.
Im Gegensatz zum „Schulz-Zug“ oder der kurzen Phase, als Annalena Baerbock 2021 als mögliche Kanzlerin gehandelt wurde, scheint das Kampagnenteam von Harris genau zu verstehen, wie man durch geschickte Dramaturgie das Interesse an der Kandidatin hochhält und gleichzeitig durch gezielte Informationspolitik das Narrativ kontrolliert. Ob sie es schaffen, den Hype-Train bis November weiterrollen zu lassen, bleibt abzuwarten.

3. Klare Forderungen stellen, statt Gemeinplätze zu bedienen

Viele Strategie- und Kommunikationsberater sind der Meinung, dass die erfolgreichsten Botschaften diejenigen sind, die am wenigsten polarisieren. In Wahlkämpfen setzen sie häufig auf Konsens-Schlagworte wie Sicherheit, Wohlstand oder Demokratie, statt kontroverse Themen anzusprechen. Auch in den USA galt das Thema Abtreibung lange als zu riskant, um es offensiv anzugehen. Doch als der Supreme Court das historische Urteil Roe vs. Wade kippte und Abtreibungen in vielen Bundesstaaten damit illegal wurden, änderte sich das. Die landesweiten Proteste machten deutlich, dass die Frage nach reproduktiver Selbstbestimmung nicht nur ein polarisierendes Thema ist, sondern auch, dass die Polarisierung hier nicht nur entlang von Parteigrenzen verläuft. 38 Prozent der republikanischen Parteianhängerschaft sagen laut einer PEW-Umfrage von 2022, dass Abtreibung in allen oder den meisten Fällen legal sein sollte.

Kamala Harris hat das erkannt und macht den Kampf um reproduktive Selbstbestimmung zum Kernthema ihrer Kampagne. Sie kommuniziert das Thema aber nicht als reine Abtreibungsdebatte, sondern als Kampf aller Frauen um ihre „reproduktive Freiheit“. Damit trägt sie die Fackel der Freiheit und stellt Trump und seine Republikaner als übergriffige Bedrohung dar.

Kamala Harris setzt so Akzente und polarisiert das politische Feld entlang einer strategischen Konfliktlinie. Von dieser Strategie können die Grünen, die Linke und die SPD in Deutschland lernen. Als in diesem Frühjahr eine von der Bundesregierung eingesetzte Expertenkommission die Legalisierung von Abtreibungen empfahl, gingen SPD und Grüne auf Tauchstation. Zu groß war die Angst davor, die FDP könnte ihnen gesellschaftliche Spaltung vorwerfen. Dabei sind laut einer Umfrage der „taz“ 75 Prozent der Deutschen für eine Legalisierung früher Schwangerschaftsabbrüche.

4. Auch mal fies sein

„When they go low, we go high“ – dieser Satz Michelle Obamas war eine moralische Absage an negative Kampagnenführung. Progressive wollten sich durch moralische Überlegenheit abgrenzen: Je unseriöser und aggressiver die rechte Gegenseite wurde, desto ernsthafter und gewissenhafter kommunizierten sie. Mit dem Slogan „Republicans are weird“ lässt die Harris-Kampagne diese Zeit nun hinter sich und landet einen echten Coup. Sie setzen eine gekonnte Spitze gegen Trump und J. D. Vance, ohne ihnen dabei übermäßige Bedeutung zu verleihen. Eine Strategie, die die kalifornische Kommunikationsberaterin Anat Shenker-Osorio als „bringing down to size“ beschreibt: zurechtstutzen.

Statt wie bisher hervorzuheben, dass Trump und Vance eine existenzielle Bedrohung für die Demokratie darstellen, sagt Harris-Vize Tim Walz: „We are not afraid of weird people. We are a little bit creeped out, but we are not afraid.“ Trump schrumpft in der Wahrnehmung der Wähler von einer übermächtigen Figur zu einem merkwürdigen Typ, um den man bei jeder Grillparty einen großen Bogen machen würde – ein Weirdo eben. Walz und Harris wirken dagegen attraktiv und wie das „Winning Team“.

Ein entscheidendes Detail: Anders als 2016, als Hillary Clinton die Anhänger Trumps als „Basket of Deplorables“ bezeichnete und damit ein Label schuf, das die Gegenseite als Beleg für die Abwertung durch die liberale Elite übernahm, zielt das Label „weird“ direkt auf das Partei-Establishment der Republikaner. Es ist zudem im Vergleich zu den verbalen Ausfällen Trumps harmlos, aber wirkungsvoll.

Wenn im kommenden Jahr die Vorbereitungen zur Bundestagswahl im Willy-Brandt-Haus, am Rosa-Luxemburg-Platz und am Neuen Tor anlaufen, sollten die Kampagnenstrategen bedenken, dass die wirksamste Strategie gegen die AfD weder darin besteht, sich an ihr abzuarbeiten, noch darin, sie übermäßig groß zu machen. Stattdessen muss es darum gehen, Höcke, Weidel und Co. als das darzustellen, was sie sind: merkwürdige Außenseiter, die nicht ernst genommen werden sollten und keine Macht bekommen sollten.

5. Den Gegner unglaubwürdig machen

Jede Partei hat ihre Schwachpunkte. Gerade in der Regierungsverantwortung verstricken sich Parteien oft in Widersprüche oder scheitern an der Umsetzung ihrer Anliegen. Im Wahlkampf macht sie das verwundbar. Es braucht Strategien, um mit diesen offenen Flanken umzugehen – sowohl als Partei insgesamt als auch als Spitzenkandidat.

Als Achillesferse von Kamala Harris gilt die Migrationspolitik, die sie im Biden-Kabinett maßgeblich mitverantwortet. Besonders in den Swing States der USA ist die Sorge um die Sicherheit an der Grenze ein Thema, das die Republikaner geschickt bespielen. So bezeichnet Trump Kamala Harris abfällig als „gescheiterte Grenz-Tsarin“.

Natürlich wissen Harris und ihr Team, dass diese Attacken gefährlich sind. Doch anstatt sich an den Positionen und Beleidigungen des Trump-Lagers aufzureiben, gehen sie in die Offensive. Bei jeder Attacke von Trump betont Harris, wie die Republikaner auf Trumps Geheiß eine parteiübergreifende Gesetzesinitiative zum Grenzschutz blockierten, um im Wahlkampf weiterhin von der Verunsicherung der Bevölkerung zu profitieren.

Die Grünen in Deutschland sollten aufhorchen: Die Union hat im letzten Jahr durch die Klage vor dem Bundes­verfassungsgericht zum Nachtragshaushalt 2021 eine Staatskrise in Kauf genommen, nur um die Ampelregierung bloßzustellen – und das, obwohl sie sich sonst als staatstragend inszeniert. Das bietet Angriffsfläche.

Bei der Debatte um die Wärmepumpe gibt sich Friedrich Merz als großer Verbündeter der Wärmepumpenhersteller. Dabei haben seine Partei und die „Bild“-Zeitung nur wenige Monate zuvor Wirtschaftsminister Robert Habeck angeschossen und das Vertrauen in das geplante Gesetz mit Halbwahrheiten grundlegend beschädigt. Statt defensiv zu reagieren, sollten sich die Grünen im Jahr der Bundestagswahl auf solche Taktiken einstellen und selbstbewusst zum Gegenangriff übergehen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 148 – Thema: Netzwerke. Das Heft können Sie hier bestellen.