Deutschland bleibt stabil

Politik

Das Grundgesetz hat aus der Vergangenheit gelernt. Am 23. Mai 1949 trat es in Kraft. Dieses Datum markiert den „Gründungstag“ der Bundesrepublik Deutschland, die nun seit 75 Jahren besteht. Sie ist damit älter als ihre drei Vorgängersysteme – das Kaiserreich, die Weimarer Republik und das Dritte Reich – zusammen. Vor einem halben Säkulum erschien die erste umfassende wissenschaftliche Bilanz zur hiesigen Demokratie unter der Ägide zweier Professoren der Politikwissenschaft, von Richard Löwenthal und von Hans-Peter Schwarz – 25 Jahre nach der Staatsgründung. Spätere Jubiläumsschriften erreichten nicht die öffentliche Wirkung dieses voluminösen Werkes mit dem kurz gefassten, aber nicht ganz zutreffenden Titel „Die zweite Republik“. Denn Republik und Monarchie sind Gegensätze, ebenso wie Demokratie und Diktatur. Der Begriff „Demokratie“ hätte besser gepasst

Heute ist Deutschland wiedervereint. Der friedlichen Revolution folgte flugs die Einheit. Kaum jemand wünscht ein geteiltes Deutschland zurück, auch wenn immer mal wieder Ost-West-Gegensätze aufbrechen – man denke nur an die hitzige Debatte um Dirk Oschmanns Bestseller: „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“. In Europa hingegen kämpfen viele Länder wie Italien und Spanien gegen Separatismustendenzen.

Zwei Texte – von dem Bonner Politikwissenschaftler Karl Dietrich Bracher („Die Kanzlerdemokratie“) und dem Freiburger Wilhelm Hennis („Die Rolle des Parlaments und die Parteiendemokratie“) – zeigen den signifikanten Unterschied zur Weimarer Republik auf. Die Kanzlerdemokratie und die Parteiendemokratie sind tatsächlich Reaktionen auf die Weimarer Zeit. Bracher widerlegt die Charakterisierung der deutschen Kanzlerdemokratie als „demoautoritär“ (Karl Loewenstein). Das war sie nicht einmal unter der Ägide von Konrad Adenauer (CDU). Der Bonner Politikwissenschaftler untersuchte verschiedene Ausprägungen der Kanzlerdemokratie. Die Stabilität unserer Demokratie gehe nicht zuletzt auf die Kanzlerregierungen zurück, schreibt er. Das sieht Wilhelm Hennis ebenso. Auch er ist ein strikter Verfechter der alternierenden Regierungsweise. Er nimmt im meist klaren Koalitionsvotum der FDP vor den Bundestagswahlen eine Hinwendung zum britischen Modell mit Regierung und Opposition wahr.

Auf den Spuren Weimars?

Das Gewicht der Kanzlerdemokratie hat sich jedoch verringert und das ursprünglich überschaubare Parteiensystem stark erweitert. Der Kanzler verfügt längst nicht mehr über die einstige Autorität. Man denke nicht nur an Konrad Adenauer. Als Olaf Scholz (SPD) beim Streit um das vorübergehende Weiterlaufen dreier Atomkraftwerke im Oktober 2022 von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch machen musste, war das kein Zeichen der Stärke, sondern eines der Schwäche. Heute weiß der Bürger vor der Wahl nicht, welche Parteien eine Koalition bilden werden. Die legen sich nicht mehr fest. Das Parteiensystem ist buntscheckig geworden.

Beide Entwicklungen lassen Defizite erkennen. Untergangspropheten sind schnell mit steilen Vergleichen zur Stelle. Aber wandelt die Bundesrepublik auf den Spuren Weimars? Mitnichten! Die Unterschiede sind in mehrfacher Hinsicht deutlich. Sie betreffen sowohl die Stabilität des politischen Systems als auch die Stärke antidemokratischer Strömungen. Wer die Phasen der Konsolidierung in der Systemwechselforschung zugrunde legt (institutionelle und gesellschaftliche Ebene sowie Verhaltenskonsolidierung und Konsolidierung der politischen Kultur), sieht statt Gemeinsamkeiten die großen Unterschiede.
Erstens überstand in der ersten deutschen Demokratie kein Reichstag die volle Legislaturperiode. Mit Philipp Scheidemann, Gustav Bauer, Hermann Müller (zweimal), Constantin Fehrenbach, Joseph Wirth, Wilhelm Cuno, Gustav Stresemann, Wilhelm Marx (zweimal), Hans Luther, Heinrich Brüning, Franz von Papen und Kurt von Schleicher gab es in 14 Jahren mehr Regierungschefs als im Dreivierteljahrhundert Nachkriegsdeutschlands.

Zweitens war die erste deutsche Demokratie durch politische und wirtschaftliche Krisen mehrfach existenziell bedroht. Allein im Krisenjahr 1923 gab es fünf Vorfälle, die das Zeug hatten, das Ende der Demokratie zu besiegeln: die Ruhrbesetzung durch Frankreich und Belgien, die Inflation mit der Vernichtung des gesamten Geldes, kommunistische Aufstandsplanungen und -versuche, separatistische Bewegungen im Rheinland und in der Rheinpfalz; der Hitler-Putsch vom 9. November, der zum „Marsch auf Berlin“ führen sollte. Die Massenarbeitslosigkeit mit sechs Millionen in der Spätphase der Weimarer Re­­publik heizte das politische Klima an.

Drittens dominierten damals in der Verwaltung, Justiz und im Militär Kräfte, die im Kern das neue System offen oder insgeheim ablehnten. Sie standen allenfalls halbherzig zu ihm und trauerten als
„Herzensmonarchisten“ mitunter dem Kaiserreich nach. Von einer Konsolidierung einer gefestigten demokratischen Kultur konnte keine Rede sein.

Viertens bekämpften KPD und NSDAP die Weimarer Republik bis aufs Messer. Bei den beiden Reichstagswahlen 1932 erreichten diese totalitären Kräfte eine „negative Mehrheit“: Bei beiden totalitären Kräften bestand Einigkeit darüber, was sie nicht wollten, aber nicht darüber, was sie wollten. Ihre Wehrverbände, die Sturmabteilung und der Rotfrontkämpferbund, trugen brutale Straßenkämpfe aus, in denen viele Menschen verletzt wurden oder sogar starben.

Fünftens verstand sich die damalige Ordnung weder als werthaft noch als wehrhaft. Nur gegen ein gewaltsames Vorgehen konnte sie vorgehen. Gegen gewaltloses Unterwandern war sie ungeschützt. Die Weimarer Verfassung setzte die Volkssouveränität absolut. Viele ihrer Strukturfehler (wie etwa der Dualismus zwischen dem Reichs­präsidenten und dem Reichskanzler) trugen zur Destabilisierung bei.

Keine Panik!

All das ist heute ganz anders. Bereits als der eingangs erwähnte Löwenthal-Schwarz-Band vor einem halben Jahrhundert erschien, war das für die meisten Beobachter offenbar. Bei einer erneuten Lektüre des Buchs springt ins Auge: Nicht wenige Autoren fürchteten seinerzeit, die Stabilität der Bundesrepublik könnte von links bedroht sein. Das klingt heute alarmistisch. Doch wer die damalige Zeit bedenkt, kann das Gefühl der Unsicherheit nachempfinden. Die 68er-Bewegung rief zu einem „Marsch durch die Institutionen“ (Rudi Dutschke) auf. Anfang der siebziger Jahre galt der „reale Sozialismus“ als tief gefestigt. Seinen Satz, die Mauer werde in fünfzig und auch in hundert Jahren noch bestehen bleiben, sagte Erich Honecker Anfang 1989. Niemand hatte darüber mit dem Kopf geschüttelt, auch im Westen nicht.

Heute blickt man mit Sorge eher auf das entgegengesetzte politische Spektrum, nicht zuletzt angesichts einer bundesweiten Stärke der AfD, die in Umfragen auf etwa 20 Prozent Zustimmung kommt. Viele Reaktionen reichen von Verunsicherung bis Angst. Dabei sind kontroverse Auseinandersetzungen wichtig in einer Demokratie, um Positionen öffentlich auszuloten und die Debatte zu beleben.

Im Zuge der Proteste gegen Corona-Schutzmaßnahmen führte der Bundesverfassungsschutz im April 2021 den Phänomenbereich „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“ ein. Warum eigentlich? Der Verfassungsschutz soll die Demokratie schützen und nicht zu einer Einengung des politischen Diskurses beitragen. Erstens zielen Extremisten immer darauf, die „demokratische und rechtsstaatliche Ordnung als solche zu bekämpfen“, wie die Behörde den Bereich auf ihrer Website begründete. Einen neuen Tatbestand braucht es da nicht. Zweitens steckt diese Kategorie viele in eine neue Gruppe, deren Absicht, den demokratischen Rechtsstaat abzuschaffen, zumindest fraglich ist. Drittens erweitert der Verfassungsschutz bar jeder Not damit seine Kompetenzen und fördert Misstrauen.

Ein Blick über den deutschen Tellerrand zeigt: Die Bundesrepublik Deutschland wird im Ausland oft mehr geschätzt als im Inland. Früher war das anders. Niemand fürchtet das heutige Deutschland, und die Deutschen sollten sich bewusst sein, dass Angst nicht hilft, künftige Herausforderungen zu meistern.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 146 – Thema: Plötzlich Opposition. Das Heft können Sie hier bestellen.