Chaostage in Frankreich

Neuwahlen

„Ich löse heute Abend die Nationalversammlung auf.“ Mit diesen knappen Worten entfachte Emmanuel Macron am Abend des 9. Juni einen Sturm – kurz nach Bekanntgabe der Europawahlergebnisse und fünf Tage vor Beginn der UEFA-Euromeisterschaft 2024. Während die Menschen vielerorts gebannt die Fußballspiele verfolgen, erleben die Franzosen zusätzlich einen unerwarteten Wahlkampf.

Die politische Landschaft in Frankreich ist komplex und häufig turbulent. Eine starke politische Mitte wie in Deutschland gibt es traditionell nicht. Stattdessen dominierte lange ein bipolarer Wettbewerb zwischen linken und bürgerlichen Lagern. Das Wahlsystem – das romanische Mehrheitsrecht – ist darauf ausgelegt, deutliche Mehrheiten zu begünstigen, was Koalitionen, wie sie in Deutschland üblich sind, unnötig macht. Seit 2022 hat sich dieses klare Bild jedoch drastisch verändert. Macron, der 2017 erstmals mit seiner Bewegung En Marche (EM) aus der politischen Mitte heraus die Präsidentschaftswahl gewann, wiederholte zwar diesen Erfolg bei der Wahl 2022, konnte sich jedoch anschließend nur eine relative Mehrheit in einer stark fragmentierten Nationalversammlung sichern.

Im Palais Bourbon sah sich Macrons Regierung seither mit einer Opposition konfrontiert. Diese Opposition bestand aus einem heterogenen und fragilen Bündnis aus Parteien der extremen Linken (La France Insoumise (LFI)) und der Linken (unter anderem Sozialisten und Umweltschützer). Daneben gab es einen homogenen Block der extremen Rechten (Rassemblement National (RN), früher: Front National) sowie verschiedene Parteien wie die bürgerlichen Les Républicains (RN) und Kleinstparteien der Mitte und der Rechten. All diese Parteien lehnten jegliche Zusammenarbeit mit der Regierung ab. Die Regierung unternahm ihrerseits keine großen Anstrengungen für ein konzilianteres Miteinander.

Diese politische Zersplitterung hat die Gesetzgebungsarbeit erschwert. Es kam zu hitzigen und oft obstruktiven Debatten. Besonders kontroverse Themen wie die unpopuläre Rentenreform haben das politische Klima weiter aufgeheizt. Diese angespannte Lage führte zu wachsender Frustration in der Öffentlichkeit, die sich bei den Europawahlen deutlich zeigte. Macrons Wählerbündnis Renaissance erhielt nur 14,6 Prozent der Stimmen, weit hinter dem Wahlsieger Rassemblement National (31,4 Prozent) und knapp vor den Sozialisten (13,8 Prozent). Als Reaktion auf dieses deutliche Wahlergebnis entschied sich Macron für die Auflösung der Nationalversammlung.

Darf Macron das einfach machen?!

Die Möglichkeit der jederzeitigen Auflösung der Nationalversammlung ist ein starkes Prärogativ des französischen Präsidenten. Er benötigt hierfür keine Zustimmung Dritter. Es besteht lediglich eine Konsultationspflicht gegenüber dem Premierminister sowie den Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern – der von der Auflösung betroffenen Assemblée Nationale und des Sénat. Mit ihnen hat Emmanuel Macron am 9. Juni telefoniert, bevor er seine Entscheidung in einer Fernsehansprache verkündete.

Sobald die Nationalversammlung aufgelöst ist, müssen Neuwahlen frühestens 20 und spätestens 40 Tage danach stattfinden. Der erste Wahlgang wird am 30. Juni und die Stichwahl am 7. Juli abgehalten. Nur Kandidaten, die im ersten Wahlgang mindestens 25 Prozent der Stimmen erhalten, dürfen in der Stichwahl antreten. Das stellt angesichts der Vielzahl an Kandidaten in den 577 Wahlkreisen eine echte Herausforderung dar.

Für die Abgeordneten und ihre Mitarbeiter ist die unerwartete Auflösung ein harter Einschnitt. Die bisherige Präsidentin der Nationalversammlung, Yaël Braun-Pivet, die sich gegen die Auflösung ausgesprochen hatte, bezeichnete sie als „brutal“ und sagte: „Es ist eine Amtszeit, die schlagartig unterbrochen wird, es sind Mitarbeiterverträge, die abrupt enden, und es führt zu Massenentlassungen. Für viele von uns ist das schwer zu ertragen.“

Die Karten neu gemischt

Emmanuel Macron hat seine Entscheidung wohl auch in der Annahme getroffen, dass er von der Uneinigkeit des vielfältigen linken Parteienspektrums profitieren und die Parteien der Mitte und des bürgerlichen Lagers dazu bringen könnte, sich zu vereinen. Wie wir heute sehen: Das war eine Fehleinschätzung, das Gegenteil ist der Fall.

In weniger als 48 Stunden nach der verkündeten Auflösung haben die linken Parteien, die bei den Europawahlen getrennt angetreten waren, ihre Differenzen und persönlichen Angriffe (vorerst) hinter sich gelassen und sich auf eine Wahlallianz verständigt. Je Wahlkreis wird nur ein Vertreter dieser Allianz auf Grundlage eines hastig geschmiedeten gemeinsamen Programms antreten. Dieses Programm übernimmt weitgehend jene Themen des Wahlkampfs von 2022, ohne dabei die teils gegensätzlichen Positionen zu wesentlichen Themen (Russland, Israel, Europa, Einwanderung, Atomkraft, Steuern usw.) verbergen zu können. Viele pro-israelische sozialistische Wähler waren über diese Allianz mit La France Insoumise entrüstet. Diese hatte sich zuletzt durch eine kaum verhohlene Sympathie für die Hamas hervorgetan. Sie muss sich den Vorwurf gefallen lassen, ein antisemitisches Klima in Frankreich zu schüren. Der Name der Allianz, Le Nouveau Front Populaire (NFP), wurde heftig kritisiert. Er wurde gewählt, um an die Volksfront von 1936 unter der Führung von Léon Blum zu erinnern. Die letzten Umfragen, die in Frankreich ob des komplizierten Wahlsystems mit besonderer Vorsicht zu genießen sind, sehen für den Nouveau Front Populaire zwischen 135 und 240 Mandate voraus; der Mittelwert liegt bei 181.

Die Republikaner tief gespalten

Die Schwesterpartei der CDU, Les Républicains (LR), ist heute tief gespalten, wenn nicht auseinandergebrochen. Ihr Vorsitzender, Michel Ciotti, hat ohne jedwede Abstimmung mit den Parteigremien eine Allianz mit dem RN ausgehandelt. Diese wurde erst nach Abschluss der Verhandlungen bekannt gegeben. Weitere Spitzen der Partei sowie gewichtige Altvordere protestierten nahezu einstimmig. Bei einer eilig anberaumten Versammlung stimmten sie für Ciottis Rauswurf aus der Partei und somit für seine Absetzung als Vorsitzender. Dieser verbarrikadierte sich daraufhin tagelang in seinem Büro und erwirkte schließlich vor Gericht eine einstweilige Verfügung gegen das Ausschlussvotum seiner Parteifreunde. Landesweit schlossen sich etwa 60 Kandidaten der Ciotti-RN-Allianz an und müssen somit keinen Gegenkandidaten des RN fürchten. Wohl aber Mitbewerber aus der eigenen Partei: Das große Lager der Gegner dieser Allianz wird konsequent Kandidaten aufstellen und versuchen, den Wahlsieg der Abtrünnigen zu verhindern. Umfragen sind hier mit Vorsicht zu genießen. Die Institute gehen von 15 bis 23 Mandaten für das Ciotti-RN-Bündnis aus. Die Gruppengröße der übrigen Républicains dürfte in einer Größenordnung von 10 bis 50 (Mittelwert: 37) liegen.

Der Rassemblement National geht mit seinem 28-jährigen Jungstar Jordan Bardella an der Spitze ins Rennen. Medial ist er derzeit omnipräsent und bespielt die sozialen Netzwerke (Tiktok: 1,7 Million Follower, Instagram: 760.000 Follower) mit großem Erfolg. Neben der Allianz mit Michel Ciotti – ein echter politischer Coup – verständigte sich der RN mit weiteren kleinen Gruppierungen auf ein Wahlbündnis, nicht jedoch mit jener des Rechtsaußen Eric Zemmour. Dessen radikale Positionen könnten gemäßigte RN-Wähler verschrecken. Marine Le Pen selbst steht derweil nicht zur Wahl. Sie wurde im Juni ins Europaparlament gewählt und plant, 2027 erneut als Präsidentschaftskandidatin in Frankreich anzutreten. Getragen vom guten Ergebnis der jüngsten Europawahlen sind die Chancen auf einen Wahlsieg groß. Je nach Umfrageinstitut schwanken die Sitzprojektionen zwischen 210 (niedrigste Spanne) und 300 (höchste Spanne). In den meisten Projektionen erhielte der Rassemblement National nur eine relative und nicht die absolute Mehrheit der Sitze, die bei 289 liegt.

Eingezwängt in der schmelzenden Mitte zwischen den zuvor genannten Linksaußen- und Rechtsaußen-Blöcken kämpft das Macron-nahe Bündnis Renaissance (Renaissance, MoDem, Horizons, Agir…) ums Überleben. Den Hochrechnungen zufolge würde die Präsidentenmehrheit am stärksten verlieren und im Durchschnitt nur 96 Sitze erhalten, gegenüber 250 Sitzen vor der Auflösung der Nationalversammlung. Die Schätzungen schwanken zwischen 65 und 130 Sitzen.

28 Tage Wahlkampf

Angesichts der kurzen Vorbereitungszeit und der leeren Parteikassen nach den Europawahlen kann von einem umfassenden Wahlkampf keine Rede sein. Wahlkämpfe in Frankreich sind strenger reguliert als in Deutschland. Die Wahlkampfausgaben sind auf 38.000 Euro (plus 15 Cent je Einwohner des Wahlkreises) begrenzt. Private Finanzierung ist streng kontrolliert und darf pro Person und Wahlkampf 4.600 Euro nicht überschreiten.

Während in Deutschland während des Wahlkampfs die Straßen von Plakaten verschiedener Parteien und Kandidaten überquellen, werden in Frankreich Wahlplakate zentral und reglementiert auf speziellen Plakatwänden angebracht, zum Beispiel vor Rathäusern oder Schulen. Diese Regel wurde in den 1960er Jahren eingeführt, um der von der extremen Rechten praktizierten wilden Plakatierung entgegenzuwirken. Die Plakatstellen sind für alle Kandidaten gleich. Das führt zu einer einheitlicheren und visuell weniger dominanten Wahlpräsenz im öffentlichen Raum. Wegen des kurzen Vorlaufs und überdies leergefegten Druckereien bleiben bei dieser Wahl die Plakatwände allerdings weitgehend verwaist.

Bezahlte politische Werbung im Radio und Fernsehen ist verboten. Zudem sind die Medien gesetzlich verpflichtet, eine ausgewogene Berichterstattung und Gleichbehandlung aller Parteien zu gewährleisten. Die sehr zahlreichen täglichen Veröffentlichungen von Umfragen in den Medien werden von einer unabhängigen Instanz kontrolliert. Zu jeder Umfrage muss erklärt werden, wie sie durchgeführt wurde. Ab dem Tag vor und bis zum Ende der Wahl (in der Praxis von Freitagabend ab Mitternacht bis zur Schließung des letzten Wahllokals um 20 Uhr am Sonntag) dürfen keine Umfragen veröffentlicht werden.

Dem Straßenwahlkampf kommt in Frankreich eine hohe Bedeutung zu. Sowohl in der Provinz als auch in Paris sind Begegnungen auf dem Wochenmarkt oder kleinere Wahlversammlungen wesentliche Elemente. Die Bilder des Kandidaten, der seine Wahltraktate verteilt und zwischen Käse- und Obstständen rege mit Händlern und Bürgern diskutiert, gehören zu den Favoriten der Fernsehsender. Ob scheidender Premierminister oder Neuling: Der intensive Bürgerdialog „Aug‘ in Aug‘“ ist ein absolutes Muss.

Was die Promis sagen

Traditionell berichten die Medien ausführlich über Schriftsteller, Schauspieler, Künstler, aber auch Sportler, die sich politisch einlassen. Zuletzt erregten die Äußerungen des Kapitäns der französischen Fußballnationalmannschaft Kylian Mbappé und seines Teamkollegen Marcus Thuram große Aufmerksamkeit: Mbappé rief während einer Pressekonferenz am Rande der Fußball-EM zum Wählen auf, um „den Extremen“ entgegenzuwirken. Thuram – noch deutlicher – bat darum, nicht für den RN zu stimmen. Der Französische Fußballverband erklärte sich daraufhin hastig für politisch neutral.

Eine Besonderheit stellen die seit 2012 bestehenden Auslandswahlkreise dar. Aktuell gibt es elf Wahlkreise für die im Ausland lebenden Franzosen. Jeder dieser Wahlkreise stellt einen Abgeordneten. So gehören etwa die in der Bundesrepublik lebenden Franzosen zum siebten Auslandswahlkreis, der neben Deutschland auch Österreich, Polen und weitere Staaten Mitteleuropas und der Balkanhalbinsel umfasst. Angesichts der großen Entfernungen zu den Wahlstätten besteht für die Auslandsfranzosen die Möglichkeit der Abstimmung per Internet.

Eine Briefwahl wie in Deutschland gibt es in Frankreich nicht. Um seine Stimme abzugeben, muss der Wähler ein Wahllokal aufsuchen oder eine „procuration“ – eine Vollmacht – für eine andere Person, zum Beispiel aus dem Familien- oder Freundeskreis, ausstellen, die an seiner statt wählen geht. Drei Tage vor dem ersten Wahlgang am 30. Juni waren es über zwei Vollmachten – eine Rekordzahl – bei den Behörden hinterlegt worden. Das zeigt, dass die Franzosen der anstehenden Wahl eine hohe Bedeutung beimessen.

Und nach den Wahlen?

Der Ausgang dieser Neuwahlen in Frankreich ist ungewiss und die Spekulationen in den französischen Medien laufen auf Hochtouren. Möglich ist eine Vielzahl an Szenarien: Von einem Parlament ohne klare Mehrheitsverhältnisse bis hin zu einer absoluten Mehrheit für das Rassemblement National. Eine detaillierte Analyse dieser dynamischen Situation würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen – und wäre zum Zeitpunkt seiner Veröffentlichung wohl auch wieder veraltet. Heben wir uns eine tiefergehende Betrachtung der Folgen dieser Wahl für die politische Landschaft und Politik Frankreichs für einen späteren Zeitpunkt auf.