Allein auf weiter Flur

Wahl in Thüringen

Man muss die Leute da abholen, wo sie sind. Dieses geflügelte Wort gilt auch für den Wahlkampf. In Weimar ist das schwer Anfang August. Auf dem Marktplatz der thüringischen Kulturstadt ist eigentlich niemand. Die einzigen Gruppen warten hier auf Stadtführungen, um etwas über die klassischen Nationaldichter Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller zu hören. Dass kleiner Markttag ist, hilft nicht wirklich. Ganze drei Stände sind aufgebaut: Blumen, Gemüse, Bratwurst. Und ein gelber Van von der FDP steht da, darauf groß: Spitzenkandidat Thomas Kemmerich, der um 11 Uhr auf Tuchfühlung mit den Menschen kommen will.

Auch ein Kamerateam des TV-Magazins „Frontal21“ steht mit den Liberalen herum und wartet auf Bürger. Thema des Beitrags soll sein: die Ampel im Wahlkampf. So sicher kann man sich bei TV-Politikmagazinen aber nicht sein, Themen wechseln während der Produktion auch mal. Geht es nicht doch um Kemmerich, um die Brandmauer zur AfD, um die Skandalwahl vor fünf Jahren? Tim Wagner zuckt mit den Schultern. „Gekommen wären sie eh“, sagt der Landesgeschäftsführer der FDP Thüringen. Am Ende gilt wohl: Auch schlechte Publicity ist gute Publicity.

Tim Wagner und Thomas Kemmerich Foto picture alliancedpaBodo Schackow

Die Geschichte, die das Fernsehteam interessiert, hat auch mich nach Thüringen gelockt. Die FDP führt dort einen Wahlkampf – ohne Hilfe der Bundespartei. Wie geht das, ohne Geld, ohne Besuche prominenter Minister, ohne Grafikvorlagen und Stylekits? Um das zu demonstrieren, hat Tim Wagner p&k nach Thüringen eingeladen. Der Unternehmer sitzt seit Januar in Berlin im Bundestag. Seine heißeste Mission ist für ihn aber trotzdem immer noch in der Heimat: Er managt den Wahlkampf der Thüringer FDP.

Das schwarze Schaf

Dass die Freidemokraten im Freistaat auf sich gestellt sind, hängt mit einem Satz zusammen, den die Spitze der FDP vor vier Jahren beschloss: „Der Bundesverband wird eine Spitzenkandidatur von Thomas Kemmerich bei der nächsten Wahl des Landtags von Thüringen nicht unterstützen.“

Kemmerich hatte sich im Februar 2020 nach der vergangenen Landtagswahl zum Ministerpräsidenten Thüringens wählen lassen – mit den Stimmen der AfD. Der amtierende Ministerpräsident Bodo Ramelow von der Linkspartei war düpiert. Er war zuvor in zwei Wahlgängen gescheitert. FDP-Chef Lindner eilte nach Thüringen und bewegte Kemmerich zum Rücktritt, den der bis heute für unnötig hält.

Tim Wagner sitzt seit Januar im Deutschen Bundestag Foto dpadts Agentur

Danach spazierte Kemmerich mit Querdenkern und Rechtsextremen gegen die Coronamaßnahmen. Für das FDP-Präsidium war das Maß voll. Im Oktober 2020 ließ es verlauten, es werde „keinerlei finanzielle, logistische oder organisatorische Unterstützung“ für ihn als Spitzenkandidaten durch den Bundesverband geben.

Was dann geschah, erklärt Tim Wagner mit regionaler Eigenart: „Die Thüringer lassen sich nicht gern sagen, was sie zu tun haben.“ Der FDP-Landesverband wählte Kemmerich ein Jahr später zu seinem Chef und nominierte ihn für die Landtagswahl 2024 zu seinem Spitzenkandidaten. Gegenkandidaten gab es nicht. „Wir hätten Thomas Kemmerich auch auf Listenplatz zwei wählen können“, sagt Wagner. „Dann hätten wir die volle Unterstützung der Bundespartei bekommen und Thomas Kemmerich trotzdem nach vorn geschoben. Das Manöver hätten die Leute aber durchschaut und uns übel genommen.“

Beliebter Rebell

Wagner zählt auf, was es konkret bedeutet, kein Geld aus dem Kampagnenfonds der Bundespartei zu erhalten. Wenn Plakate abgerissen werden, können nicht mal eben neue aufgehängt werden. Das Reservoir ist endlich. Die helfenden Hände auch. Weil der Rahmenvertrag der Bundespartei mit einer Druckerei nicht zur Verfügung stand, mussten eigene Verträge ausgehandelt werden.

Die Plakate, die von Thomas Kemmerich jetzt hängen, kommen gut an, sagt Wagner. Auf einem sind seine schwarzen Cowboystiefel zu sehen: „Zurückgetreten, um Anlauf zu nehmen“. Der Renner ist aber ein anderes Plakat. Auf dem nimmt Kemmerich (auch) die FDP-Koalitionspartner in Berlin aufs Korn: „Das Mittel gegen Rot-Rot-Grün-Schwäche“.

Wie gut die Plakate ankommen, dazu erzählt Wagner eine Anekdote. Als er selbst Plakate kleben war, sprachen ihn Unbekannte an. Wagner war angespannt – unweit vom Ort war er kurz zuvor noch beim Plakatieren angegriffen worden. Wagner hatte sich damals zu seinem verängstigten Kind in sein Auto gerettet, auf das die Männer dann eintraten. Als die Unbekannten jetzt Thomas Kemmerich auf dem Plakat erkannten, halfen sie, es zu kleben, berichtet Wagner.

Thomas Kemmerich vor einem Wahlkampfplakat Foto KemmerichThLX

Die Gegner sind präsent

Harter Gegner der FDP ist die rechtsextreme Thüringer AfD. Dass die politisch gar nicht konstruktiv sein will, beweise sie täglich, sagt Wagner. „Die AfD leistet praktisch keine parlamentarische Arbeit. Dafür fehlt ihr in Berlin auch das Personal. Das kommandieren sie nämlich in Bürgerbüros in die Fläche ab, statt es in den Bundestagsbüros inhaltlich arbeiten zu lassen.“ Die AfD betreibt in Thüringen mehr Bürgerbüros als jede andere Partei.

Das Bündnis Sahra Wagenknecht plagen dagegen andere Probleme. Die Partei nimmt kaum Mitglieder auf, um nicht von politischen Glücksrittern unterwandert zu werden. Ganze 47 sind es in Thüringen. Viele, die in Wahlen Mandate über BSW-Listen erhalten, sind nicht in der Partei. Auf kommunaler Ebene sind schon ganze Fraktionen zum BSW übergelaufen – und könnten weiterziehen. Tatkräftige Unterstützung soll das Bündnis online von russischen Bot-Netzwerken bekommen, wird vermutet.

„Viele wollen die AfD nicht wegen, sondern trotz Höcke wählen“, sagt Wagner. Das hat sein Landesverband mit eigenen Zahlen von einem Umfrageinstitut ermitteln lassen. Ungefähr die Hälfte der AfD-Wähler könne man der Partei abspenstig machen, hoffen die Liberalen. Mit Thomas Kemmerich haben sie dazu das richtige Gesicht, glauben sie.

Ist Kemmerich der Normale?

Von den amerikanischen Liberalen haben sie sich deshalb die Strategie abgeschaut, das Personal der anderen zu veralbern. In einem FDP-Spot irrt ein unentschlossener Wählen von einer unangenehmen Begegnung zur nächsten: Er trifft einen peinlichen Björn Höcke, einen trällernden Bodo Ramelow, einen hölzernen Mario Voigt und fragt sich, ob denn niemand Seriöses zu Wahl stünde. Am Ende erscheint Thomas Kemmerich und sagt: „Ja. Mich.“

Entstanden sind die Plakate, Ideen und Slogans in der Jenaer Agentur „Art-Kon-Tor“. Die Agentur arbeitete schon an Ideen für die Kampagne, bevor die Bundespartei ihre und damit auch die Unterstützung der Agentur „Heimat“ für die Thüringer Parteifreunde versagte. Die wussten schon, sie würden Kemmerich auf Listenplatz 1 wählen. Wagner kennt den Agenturchef Matthias Luge aus dem Studium. Man vertraut sich.

Mittags steht ein Termin in Jena an. Die Räume sind typisch Agentur: ein ehemaliges Lagerhaus, Glaswände, Mauerwerk, Pflanzen. So Berlin die Räume aussehen, so wenig Berlin stecke in der Agentur, sagt Wagner. „Sie verstehen Thüringen besser, als es eine Agentur aus Berlin-Mitte könnte.“

Die Themen sind dann aber doch eher banal. Eine FDP-Kandidatin hat sich selbst Social-Media-Kacheln bauen lassen, in eher loser Anlehnung an das Corporate Design der Kampagne. Wagner ist sauer. Es gebe einen Kampagnen-Shop, sagt er, da könne man Kacheln bestellen. Offenbar hat die Kandidatin sich die Erlaubnis woanders geholt. Viele Wähler werden das wohl nicht merken. Aber dafür ist die Agentur da. Dafür wird sie bezahlt.

(Fast) keine Hilfe

Das fehlende Geld der Bundespartei ist ein guter Grund, hier genau zu sein. Die Thüringer Liberalen sind früh Spenden sammeln gegangen. Anfang August hatten sie schon über eine halbe Million Euro eingetrieben. Als Ziel waren im Januar 600.000 Euro ausgerufen worden. Die Bundespartei hatte vor fünf Jahren noch etwa 350.000 Euro dazugegeben.

Unterstützung mit Wahlkampfbesuchen gibt es auch keine – jedenfalls fast keine. Zwar lässt sich Parteichef Christian Lindner nicht blicken. Aber FDP-Querschläger Wolfgang Kubicki schaut gern vorbei. Auch der landwirtschaftspolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Gero Hocker, kommt. Die Thüringer sind über die Absenz der Bundesprominenz nicht nur traurig. Die Ampel ist hier unbeliebt. „Dafür kommt Linda Teuteberg aus Brandenburg“, sagt Wagner. „Die Leute hier kennen und mögen sie.“

Welche Themen treiben die Menschen um? „Es geht in Thüringen eher darum, warum der Bus nicht fährt“, sagt Wagner. Neuerdings hat die FDP den Kulturkampf fürs Auto eröffnet. Der Jenaer FDP-Oberbürgermeister Thomas Nitzsche hat sich davon distanziert. Wagner dagegen weiß, was das Auto auf dem Land wert ist. Mit seinem eigenen Auto hat er in sechs Monaten fast 10.000 Kilometer abgerissen, immer auf dem Weg zu Wahlkampfveranstaltungen, Firmenbesuchen und Vereinsfeiern. Nach Berlin fährt er mit dem Zug.

Tim Wagner gratuliert Thomas Nitzsche r zur Wiederwahl zum Jenaer Oberbürgermeister Foto picture alliancedpaJacob Schröter

Gelegentlich warnt ein schriller Alarm in Wagners Auto vor Blitzern. Als MdB sollte man nicht geblitzt werden. Das Nummer-1-Thema auf den Thüringer Marktplätzen ist jedoch der russische Angriffskrieg in der Ukraine. Warum die Leute nicht viel lieber über die Überalterung in Thüringen oder den Stundenausfall in der Schule reden wollen, ist unklar. Wenn er sich danach erkundige, höre er oft, das habe man im Netz gelesen, sagt Thomas Kemmerich. Tiktok und Instagram spielen in Thüringen keine Rolle. Hier regiert bei den sozialen Netzwerken noch immer Facebook.

0 Prozent der Thüringer loggen sich dort regelmäßig ein. Hier zahlt sich aus, dass Thomas Kemmerich persönlich gute Beliebtheitswerte verzeichnet. „Seine Facebook-Seite ist unser Zugang zur Altersgruppe über 60“, sagt Wagner. Ebenfalls 40 Prozent der Thüringer sind laut ZDF-Politbarometer noch unentschlossen, wen sie wählen sollen. Auf sie schielt die FDP besonders. Bei einigen Umfragen hatte sie zuletzt mit rund drei Prozent jedoch nicht einmal einen eigenen Balken.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 148 – Thema: Netzwerke. Das Heft können Sie hier bestellen.