Die Zukunft des Hauptstadt­journalismus: 10 Namen zum merken

Medien

Deutschland feiert 75 Jahre Grundgesetz und damit auch 75 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Die letzten 25 Jahre davon hieß es gleichzeitig: Die „neue“ Berliner Republik, in der vieles anders ist als in der „alten“ Bonner Republik. Eine neue Spezies, die quasi mit der Berliner Republik aus der Taufe gehoben wurde, sind die Hauptstadtjournalistin und der Hauptstadtjournalist: Stets kritische Beobachter der Berliner Politikblase, deren Teil sie doch längst selbst sind und nach deren ungeschriebenen Regeln auch sie sich durch die Stadt (die bei den meisten nur aus dem Bezirk Mitte zu bestehen scheint) bewegen.

Man kennt sich untereinander, begegnet man sich doch in schöner Regelmäßigkeit auf Abendveranstaltungen, Parteitagen oder in Talkshow-Studios, in kollegialer Verbundenheit und professioneller Konkurrenz um die beste Geschichte, die schnellste Info, die größte Reichweite. Der Hauptstadtjournalismus ist facettenreich und kennt viele verschiedene Ausprägungen, findet gleichzeitig in Feuilleton und Fernsehen, Meinungsbeiträgen und Reportagen, Podcasts und Twitter, zunehmend auch bei TikTok statt.

Wer verkörpert heute diese Facetten des Hauptstadtjournalismus, wer setzt heute Standards der politischen Berichterstattung und wer wird den Hauptstadtjournalismus die nächsten 25 Jahre prägen? Wir stellen Ihnen 10 Journalistinnen und Journalisten vor, die idealtypisch für ihre Zunft stehen, die schreiben, talken, netzwerken, posten und streiten was das Zeug hält. Zehn Namen, die Sie kennen sollten.

 

Anna Mayr
Redakteurin im Hauptstadtbüro der „Zeit“

Foto: Vic Harster
Foto Vic Harster

 

Liebhabern von prosaischen Gesellschaftskolumnen, Langzeitbeobachtungen oder Politiker-Porträts aus nächster Nähe ist Anna Mayr schon lange ein Begriff. Seit 2020 ist sie Redakteurin im Berliner Büro der „Zeit“, wo es ihr scheinbar mühelos gelingt, lange, feuilletonistisch anmutende Stücke zu politischen, aber auch zu Alltagsthemen zu produzieren. Bürgergeld, sozialer Wohnungsbau, Kindergrundsicherung: wiederkehrendes Thema ihrer Berichterstattung ist die Sozialpolitik – ein Anliegen, welches sich auch aus ihrer Biographie ableitet. Aufgewachsen im Ruhrgebiet erlebte sie die sozialen Einschnitte der sozialdemokratischen Agenda-Politik hautnah. Auch wenn sie sich längst von ihrem Herkunftsmilieu emanzipiert hat, der feine Blick für Klassenunterschiede – sozioökonomische, vor allem aber soziokulturelle – ist ihr geblieben und findet sich unter anderem in ihren beiden Büchern „Die Elenden“ und „Geld spielt keine Rolle“ wieder.

Alev Doğan
Stellvertretende Chefredakteurin „ThePioneer“

Foto: picture alliance/HMB Media/Uwe Koch
Foto picture allianceHMB MediaUwe Koch

 

Alev Doğan ist noch vergleichsweise neu im politischen Berlin, doch schon in der relativ kurzen Zeit mauserte sie sich zu einer echten Hausnummer mit einem beachtlichen Netzwerk. 2020 kam sie als Chefreporterin vom Rhein an die Spree, genauer gesagt auf Gabor Steingarts Pioneer-Schiff – damals auf Empfehlung des neuen Chefredakteurs Michael Bröcker. Seitdem ist sie im Pioneer-Kosmos Podcasterin und feine Feder zu allen gesellschaftspolitischen Themen und zudem gern gesehener Gast in Berliner Talkshow-Runden, wo sie das politische Tagesgeschehen einordnet. Nebenbei moderiert sie auch noch die eine oder andere Berliner Abendveranstaltung. Mit dem Weggang von Bröcker und seinem Stellvertreter Gordon Repinski stieg sie zu Beginn des Jahres auch intern auf und bekleidet hinter Herausgeber und (interimsweise) Chefredakteur Steingart den Posten der stellvertretenden Chefredakteurin.

Johanna Rüdiger
Head of Social Media Strategy (Culture & Documentaries) Deutsche Welle

Foto: DW
Foto DW

 

Spätestens seitdem selbst der Bundeskanzler bei Tiktok zu finden ist, hat auch der letzte politische Beobachter verstanden: Die Plattform ist wichtig im Kampf um die Deutungshoheit in der jungen Zielgruppe. Anders als die etablierten bieten die sozialen Medien dem Konsumenten ungefilterte (Des-)Informationen. Hier Abhilfe zu schaffen ist die Aufgabe von Johanna Rüdiger. Anfang 2020 kam sie von der Funke Mediengruppe, wo sie die Video-Kreation leitete, zur „Deutschen Welle“ nach Berlin und verantwortet seitdem die Social-Media-Strategie der Hauptabteilung Culture and Documentaries des Auslandsrundfunks. Dazu zählt Tiktok, wo sie ihre 250.000 Follower niederschwellig abholt. „Johanna Rüdiger hat ein erstklassiges Gespür für Themen, die Nutzende in den sozialen Medien bewegen. Ihre Fähigkeit, komplexe journalistische Inhalte verständlich und humorvoll als News to Use zu präsentieren und gleichzeitig als DW Ambassador mit ihrer Community in den direkten Austausch zu gehen, macht sie so wichtig für unser Haus. Ich bin beeindruckt von ihrem Engagement und hohen persönlichen Einsatz für guten Journalismus“, sagt DW-Intendant Peter Limbourg.

Jonas Schaible
Redakteur im „Spiegel“-Hauptstadtbüro

Foto: Dominik Butzmann/Der Spiegel
Foto Dominik ButzmannDer Spiegel

 

Für seinen feinsinnigen Essay zur „Ökodiktatur“ erhielt Jonas Schaible 2020 den Reporterpreis. Der Titel, viel mehr aber noch die Lektüre geben einen Einblick in die Themen, die Schaible umtreiben: die Klimakrise und die Sorge um unsere Demokratie. Seit 2017 beobachtet er als Parlamentskorrespondent die Berliner Politik, zunächst für „t-online“, seit 2019 im Hauptstadtbüro des „Spiegel“. Dort weiß Melanie Amann, was sie an ihm hat. „Statt sich mit einem schnellen ‚hot take‘ in Social Media zu profilieren, glänzt Jonas immer wieder mit seiner nachdenklichen, originellen und trotzdem meinungsstarken Kommentierung“, so Amann. „Damit stehen ihm im Spiegel und im Journalismus insgesamt alle Wege offen.“

Julius Betschka
Chefreporter im Hauptstadtbüro des „Tagesspiegels“

Foto: Lena Meyer
Foto Lena Meyer

 

Als Reporter für Berliner Landespolitik prägte Julius Betschka in den letzten Jahren vor allem die lokalpolitische Berichterstattung des „Tagesspiegel“ und wurde 2021 mit 29 Jahren Leiter der Landespolitik. Seit Oktober 2023 ist er Chefreporter im Hauptstadtbüro und bearbeitet eine beeindruckende Bandbreite an bundespolitischen Themen, vor allem die SPD, den Osten und Migration, in einem Output, der nicht nur in der Tagesspiegel-Redaktion seinesgleichen sucht. Laut „Tagesspiegel“-Chefredakteur Lorenz Maroldt, der ihn zum Tagesspiegel lotste, wird Betschka „in der Redaktion und in der Berliner Gesellschaft über alle Parteigrenzen hinweg zurecht hochgeschätzt und respektiert für seine kenntnisreiche und faire Berichterstattung, für seine anregenden und pointierten Meinungsbeiträge und seine Offenheit gegenüber anderen Perspektiven. Darüber hinaus ist Julius ein absoluter Teamplayer und toller Kollege, so dass es eine Freude ist, mit ihm zusammenzuarbeiten.“

Korbinian Frenzel
Moderator „Studio 9 – Der Tag mit …“ beim Deutschlandfunk Kultur

Foto: Tobias Koch
Foto Tobias Koch

 

Für viele Menschen in Deutschland ist Korbinian Frenzel (werk)täglicher Begleiter ihres Alltags. Mittags um 12:05 Uhr, montags bis samstags, empfängt er in seiner Radio-Show „Studio 9 – Der Tag mit …“ für jeweils eine knappe Stunde einen Gast für einen Deep-Talk zu den Themen des Tages. Alle zwei Wochen (jeweils donnerstags) haben Fans der Show sogar die Möglichkeit, der Aufnahme live beizuwohnen, wenn Frenzel seinen Gast ins Humboldt-Forum einlädt, um die Folge vor Publikum aufzunehmen. Das Format ist so beliebt und stilprägend, dass man es nicht nur im Radio und in der Deutschlandradio-App, sondern auch bei Spotify und Co. zwischen den unzähligen anderen Podcasts der Republik finden kann. „Was Korbinian Frenzel aus der Mittagstunde bei DLFKultur gemacht hat, ist mir bestes gesendetes Kaffeehaus. Inspirierende Gespräche voller Witz, Wissen, und mit jedem Türschwung weht ein neuer erfrischender Gedanke herein. Das geht nur, wenn der Gastgeber den Platz in der Mitte souverän wie dezent beherrscht. Vermutlich hilft es dabei enorm, aus Wolfsburg zu kommen“, würdigt Friedrich Küppersbusch den Radio-Host, der mit der Politikwissenschaftlerin Julia Reuschenbach aktuell an einem Buch zur Debattenkultur arbeitet.

Ronen Steinke
Rechtspolitischer Korrespondent der ­„Süddeutschen Zeitung“

Foto: Hannes Leitlein
Foto Hannes Leitlein

 

Er ist meistens der erste Ansprechpartner, wenn es um die Erläuterung komplexer, juristisch-politischer Sachverhalte geht. Ronen Steinke, seit 2017 rechtspolitischer Korrespondent im Dienst der „Süddeutschen Zeitung“, zählt als promovierter Jurist (Völkerstrafrecht) zu den absoluten Ausnahmeerscheinungen im deutschen Politikjournalismus. Mit seiner Domänenkompetenz im Bereich Rechtspolitik sticht Steinke heraus – ohne es dabei jedoch an analytischer Schärfe bei der Betrachtung politischer Prozesse fehlen zulassen. In seinem Buch „Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich“ zeigt er beispielsweise auf, wie das scheinbar blinde Justizsystem in der Praxis zu realer Benachteiligung bestimmter Gruppen führt. Auch zu Fragen des Völkerrechts und der internationalen Strafgerichtsbarkeit klärt er seine Leserschaft auf, ebenso wie zu bedenklichen rechtsstaatlichen Vorgängen in Ländern wie Polen, Ungarn oder Israel. „Manchmal lese ich jeden Tag einen Text von Ronen Steinke und ich frage mich: wie bekommt der Kerl das bloß hin, so viel zu recherchieren und zu schreiben?“, wundert sich auch Stephan Lamby. „Ronen Steinke ist nicht nur äußerst fleißig, sondern ebenso kundig. Niemand beantwortet grundsätzliche juristische Fragestellungen so präzise wie er.“

Victoria Reichelt
Redakteurin und Moderatorin bei Funk und ZDF

Foto: Klaus Wedding
Foto Klaus Wedding

 

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk (und speziell das ZDF) haben nicht den Ruf, besonders das junge Publikum anzusprechen. Um die Bilanz aufzupolieren, hoben ARD und ZDF das Programm „Funk“ aus der Taufe, dessen Gesicht seit 2022 auch Victoria Reichelt ist. Im Wechsel mit Aline Abboud und Jan Schipmann ist Reichelt regelmäßig bei Youtube mit dem Format „Die Da Oben“ zu sehen, wo sie jungen Menschen möglichst altersgerecht Grundlagen des politischen Systems und Einordnungen aktuellen Tagesgeschehens nahebringt. Ergänzend dazu hostet sie den Funk-Podcast „Absolute Mehrheit“ mit wöchentlich einem Politiker-Interview. Neben Youtube sind Instagram und Tiktok für sie wichtige Kanäle, um in ihre Zielgruppe hineinzuwirken, als Moderatorin bei ZDFheute live ist sie jedoch auch dem „älteren“ ÖRR-Publikum ein Begriff.

Sara Sievert
Chefreporterin Politik bei T-Online

Foto: Dominik Butzmann
Foto Dominik Butzmann

 

Ist man viel im politischen Berlin unterwegs, ist es sehr schwer, ihr nicht über den Weg zu laufen. Egal ob Diskussionsrunde, Parteiveranstaltung oder Abendgala, Sara Sievert macht ihre Aufwartung. Nach dem Kickstart ihrer Karriere als Chefreporterin Politik bei „Focus Online“ ist sie, nach einer Zwischenstation im Hauptstadtbüro des „Spiegel“, inzwischen beim Portal „T-Online“ angekommen, wo sie vor allem die Unionsparteien im Bundestag beobachtet. Bei der Berichterstattung zeigt sie vollen Einsatz und scheut auch vor unkonventionellen Aktionen nicht zurück, um mit Unions-Politikern auf Tuchfühlung zu gehen. Neulich lief sie etwa den Berliner Halbmarathon gemeinsam mit CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, dem neben Parteichef Friedrich Merz wichtigstem Mann für ihre Berichterstattung.

Anna Schneider
Chefreporterin bei der „Welt“

Foto: Amin Akhtar
Foto Amin Akhtar

 

Wer nach nuancierten Betrachtungen und abwägenden Worten sucht, sollte vielleicht besser zu einer anderen Lektüre greifen: Bei Anna Schneider gibt es klare Kante, eine kerzengerade Haltung und die eine oder andere wohlplatzierte Provokation. Die gebürtige Österreicherin kam 2021 aus dem Berliner Büro der Schweizer „Neuen Zürcher Zeitung“ zum Axel-Springer-Konzern. Auf Betreiben von Chefredakteur Ulf Poschardt wurde extra für sie die neue Position der „Chefreporterin Freiheit“ geschaffen, ein Thema, dessen Auslegung sie seitdem insbesondere in bissigen Kommentaren ausbuchstabiert. Freiheit ziert – wenig überraschend – auch den Titel ihres Buches, einem Plädoyer für eine libertäre Weltsicht. Streitbar und konfrontativ präsentiert sie sich in ihrem Social-Media-Auftritt insbesondere gegenüber linksliberalen Kolleginnen und Kollegen und ihrem Lieblingsgegner, dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk. „Sie würde sich niemals auf den Himmel berufen wollen. Denn Anna Schneider ist auch unabhängig von jedem Aberglauben“, befindet Jörg Thadeusz. „Man könnte trotzdem meinen, sie sei von ganz oben nach Deutschland geschickt worden. Als Krampflöserin. Als Volljährige unter vielen deutschen Konfirmanden, denen sie lächelnd zuruft: Ihr könnt auch frei sein. Müsst euch halt nur ein bisschen zusammenreißen.“

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe N° 147 – Thema: 25 Jahre Hauptstadtjournalismus. Das Heft können Sie hier bestellen.